PETER LIECHTI (1951-2014)
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KICK THAT HABIT (1989, Music film, 3:4, 16mm; DVD, Digi-Beta, 45')
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«Musizieren mit Alltagselektronik» Ella Kienast
Alltägliche Geräte unter neuen Gesichtspunkten - Klangräume von Musikinstrumenten erweitern - Vergrössern des Wellenspektrums...
Scheinbar wahllos werden alte Plattenspieler, Resten elektronischer Spielzeuge, alte Radios, Tonbandgeräte, Sender, Lautsprecher oder Akustikschalter, in einer lockeren Gruppe aufgebaut. Nach Einschalten des Stroms beginnen Andy Guhl und Norbert Möslang mit den Geräten zu spielen, indem sie sie manipulieren, sie einzeln zu- und abschalten, Sender und Empfänger gegeneinander ausspielen. Das Duo ist ständig in Aktion. Dieser optische Reiz der Bewegung der alten Geräte und der Bewegung der Musiker ist ein faszinierendes, spannungsvolles Element in KICK THAT HABIT, wobei es nahezu unmöglich ist, das Hervorbringen bestimmter Töne/Geräusche mit dem Agieren der Künstler zu verbinden, was den Filmemacher Liechti zu einem nicht minder faszinierenden Spiel mit der Imagination des Zuschauers anstiftete.

Konzert für 1 Draht, 2 Spieler und Tonabnehmer
Quer durch die Halle von Wand zu Wand auf einer Länge von über 20 Metern ist ein dünner Klaviersaitendraht aus Federstahl gespannt. Die lange Saite läuft an beiden Enden über zwei Tonabnehmer, allerdings ungewöhnliche: Es handelt sich nämlich um die winzigen Lautsprecher jener Billigelektronik, die in den bekannten, in jedem Warenhaus erhältlichen singenden Geburtstags- und Gratulationskärtchen vorhanden sind. Derart zweckentfremdet übertragen die Abnehmer den Ton der schwingenden Saite über einen kleinen Verstärker auf vier im Raum verteilte Lautsprecher. Die beiden Musiker befinden sich auf einem Laufsteg und haben so die Möglichkeit, den Schwingungsweg der Saite durch den Einsatz von Schultern und Händen permanent zu verändern. Gleichzeitig versetzen sie die Saite mit Holz- und Metallstücken, mit konventionellen Violinbögen, durch Zupfen, Schlagen, Reiben und Streichen in Bewegung - ein Konzert, das Tonspiel und zugleich Schauspiel ist.

«Das Hauptanliegen der musikalischen Arbeit des Duos ist die Aktivierung des Hörsinns», wie Museumskurator Lutz Tittel anlässlich einer Musikaktion von Andy Guhl und Norbert Möslang im Städtischen Bodensee-Museum bemerkte. «Sie greifen dabei nicht auf die klassische Tonalität der europäischen Musik mit ihrem geregelten Ablauf zurück, sondern auf die unendliche Vielfalt der Geräuschtöne. Sicher ist die Verwendung der Abfallgeräte bei der Arbeit des Duos und dessen scheinbar modulationslose und wenig aufeinander abgestimmte Musizierweise eine kritische Reaktion auf die neue Welle elektronischer Musik (nach den Anfängen in den 50er Jahren, z.B. mit Eimert, Stockhausen), bei der mit immer grösserem und komplizierterem Technikaufwand (und der Einbeziehung von Computern) ausgefeilteste Stücke produziert werden.»
Möslang/Guhl akzentuieren einzelne Partituren ihrer eigenwilligen und provozierenden Klang- und Geräuschinszenierungen mit Titeln wie «Wellenbad», «Den Code brechen», «Laboratorium des Gehörs», «Geknackte Alltagselektronik» oder «Bewegung hörbar machen» etwas, was Peter Liechti zum Schluss von KICK THAT HABIT mit filmischen Mitteln aufnimmt und im umgekehrten Sinne tut: Er macht Töne sichtbar - eine Symbiose namens Tonfilm.


«Ein Dropkick der Sinne» Christoph Settele
Kick That Habit ist kein konventionelles Musiker-Porträt, keine psychedelische Bebilderung von Recycling-Noise-Music, kein dokumentarisch aufgemotzter Videoclip, sondern der Versuch einer subtilen Annäherung einer visuellen an eine akustische Ausdruckswelt, die in eine raffinierte Synthese münden wird.

Wie der Titel des Films verspricht, steht die Infragestellung von Gewohnheiten, Ordnungen und Mustern im Mittelpunkt, primär natürlich Gewohnheiten des visuellen und akustischen Erlebens. Dass dieser Kick durch alle möglichen Habits einer ereignislosen, kleinkarierten schweizerischen Realität zu einem Erlebnis wird, ist allem voran der beeindruckenden Kameraführung von Peter Liechti zu verdanken.

Das Porträt zweier Musiker, die aus AbfallElektronik neuartige Töne recyclen, bildet den Ausgangspunkt einer hintergründigen Suche nach verlorenen, zerstörten und ver-rückten Erlebnisbereichen. Proben und KonzertAusschnitte der beiden Musiker Guhl und Möslang stehen visuellem Erinnerungs-Matedal des Filmemachers gleichgewichtig gegenüber. Peter Liechti entlockt alltäglichen Beobachtungen eine atmosphärische Endzeitstimmung, die auch in der Musik vital spürbar ist. Diese autonomen Teile werden mit einem "Ausflug ins Gebirge" zum Alpstein und einem anderen hinunter zum Bodensee verknüpft zwei magische Eckpunkte, die das gemeinsame Herkunftsgebiet des Filmemachers und der Musiker, die Ostschweiz, eingrenzen.

Wie die Musiker dem akustischen "Erbe" des zivilisatorischen Abfalls auf der Spur sind, so rückt der Filmemacher dem durch die Freizeitindustrie zerstörten Berg-Mythos visuell zu Leibe und entdeckt nurmehr eingekapselte, hinter Glas verschanzte Ereignislosigkeit. Allein dem unergründlichen See scheint durch die Kolonisation das Archaische nicht ganz abhanden gekommen zu sein.

KICK THAT HABIT ist eine filmische und akustische Entdeckungsreise, die durch den hohen Grad an sinnlicher Qualität besticht und stets neue Aspekte und Sichtweisen ein- und desselben Gegenstands auf lustvolle Art vermittelt. Das Alltäglichste wirkt befremdend und ver-rückt, erscheint in einem andern Licht, jenseits definierter Ordnungen und bewegt sich somit stets an der Grenze zum Surrealen, Magischen. Wie Guhl und Möslang die entwertete Alltagselektronik zu knacken versuchen, so durchleuchtet Liechti die Orte und Objekte des Geschehens und ihre visuelle Codierbarkeit. Bilder und Töne überlappen sich, ohne dass sie sich gegenseitig augenfällig zu interpretieren versuchen. Es eröffnen sich vielmehr Assoziationsfelder, die sich im Lauf der Zeit zu einem weitmaschigen Ton-Bild vernetzen, das Blick und Ohr für eine Welt zu schärfen vermag, hinter deren erstarrter Ordentlichkeit zugleich ihre Deformation und damit ihre offene Form aufscheint.

Das fliessende Wechselspiel der sanften Annäherung von Visuellem und Akustischem führt am Schluss zu einer spielerischen Verbindung: die Bilder erschaffen sich ihren eigenen Ton durch lichtempfindliche Sensoren von Möslang und Guhl.


«Die Musik führt das Bild» von Ralph Hug, St.Galler Tagblatt, 1990
Als sich Peter Liechti, Autor von «Théâtre, de l'Espérance», «Ausflug ins Gebirg» und «Tauwetter», dazu entschloss, einen Film über die vom Duo Möslang/Guhl entwickelte Kunst des Geräuschs zu machen, hatte er keine dokumentarischen Absichten. Wohl sollte gezeigt werden, wie aus elektronischem Abfall neuartige Klänge entstehen, mehr jedoch lag ihm am Herzen, einen eigenständigen Film zu komponieren, der ins Bild setzt, was er gleichzeitig auch als Ton transportiert.

«Ich habe einen ähnlichen Zugang zu meiner Bildwelt wie Möslang/Guhl zu ihren futuristischen Klängen», sagt Liechti. Er, wie sie, möchte in ihrem Arbeitsbereich einen Code knacken, durch den täglichen Abfall hindurch eine neue Welt erschliessen.

In «Kick That Habit» («lege deine Gewohnheiten ab») nähert sich Liechti der avantgardistischen Tonkunst des Duos in mehreren, Spannungsbögen an. Dokumentarische Aufnahmen aus Live-Konzerten und der «Draht-Aufführung wechseln mit Spielszenen ab, in denen Kunstier wie Peter Kamm, Alex Hanimann oder Roman Signer für kurze Momente als Darsteller auftreten.

Hommage an Pasolini
In diesen wechselhaften Ablauf schneidet Liechti Bilder hinein, die einer eigenen poetischen Logik folgen und den Rhythmus des Films bestimmen. Er endet, kaum erkennbar, in einer privaten Hommage an Pier Paolo Pasolini: Mit dem tristen Bild seines Grabsteins am Ort seiner Ermordung im proletarischen Vorort Ostia klingt das 45-minütige Werk aus. Die im Film übliche Hierarchie von Bild und Ton - die Musik im Hintergrund kehrt Liechti um: Der Ton erhält eine leitende Funktion.

Alltag neu erfahren
So vermittelt Liechti ein dramaturgisch geschickt inszeniertes Wechselbad von Gefühlen und Stimmungen: Intensität und Stille, Heftigkeit und Leere, Geschwindigkeit und Ruhe. Ihm gelingen überraschende Bilder: eine winterliche Bahnfahrt auf den Hohen Kasten, ein elegischer Ausflug ins Rheindelta und auf den Bodensee zeigen vertraute Landschaften in gänzlich neuer (Hör)Perspektive – Expeditionen ins Unbekannte, das zugleich Alltag und Heimat ist.

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