PETER LIECHTI (1951-2014)
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FRIEZE No. 15 Juni–August 2014

Im weitesten Winkel

Über das Werk des im April verstorbenen Zürcher Filmemachers Peter Liechti

Bert Rebhandl

„Ich will gar nix vom Berg“, sagt Peter Liechti an einer Stelle seines Films Ausflug ins Gebirg, mit dem er 1986 einen ersten großen Schritt zu einer originären filmischen Form machte. Vom Berg nichts zu wollen, das ist eine Distanzierungsgeste, die für einen Schweizer einen anderen Akzent hat als für Menschen aus dem Flachland. Bevor man noch vom Berg nichts wollen kann, will ja schon der Berg etwas. Anerkennung seiner Erhabenheit etwa, oder Bewältigung seiner Höhen in mühseligem Aufstieg. Peter Liechti will aber gar nicht auf den Gipfel, er macht nur einen Ausflug, der ihn ins Hotel Enzian und in den Gasthof Altdeutsche Stuben bringt, der ihn Himbeertorte essen lässt und „mit Feldstechern die Täler absaugen“.

Die Distanzierungsgeste ist auch eine filmische. Der halbstündige Ausflug ins Gebirg zerlegt die Eindrücke aus der Höhe in grobe Videopixel, übersetzt das Rauschen der Höhenluft in Synthesizerklänge, und wo die technischen Mittel den Natureindruck nicht ausreichend konterkarieren, taucht Liechti die Bilder noch in die Rauchschwaden der Zigaretten, die er scheinbar ohne Unterlass inhaliert.

Es gibt ziemlich deutlich eine literarische Inspiration für diesen Ausflug: das Selbstgespräch in Form von  Tiraden, das viele  Protagonisten in den Büchern von Thomas Bernhard führen. Liechtis Selbstgespräche in Ausflug ins Gebirg bringen ihn schließlich zu einem Fazit, das der Filmemacher mit seiner Arbeit zugleich widerlegt:

„Der Berg macht blöd.“ Die Blödheit ist hier so etwas wie schief gelaufene Euphorie, und der Euphorie wollte Liechti sich  nicht verdächtig machen. Dazu war er zu sehr Einzelgänger in einem Land, in dem Ordnung und Integration sehr wichtig sind.

Es dauerte nach Ausflug ins Gebirg noch zehn Jahre, bis der 1951 in St. Gallen geborene, später in Zürich lebende Liechti mit seinem ersten abendfüllenden Film den Durchbruch zu einem breiteren Publikum schaffte. Dabei half ihm die Zusammenarbeit mit einem befreundeten Künstler. Signers Koffer (1996) ist ein Porträt von Roman Signer, der an einer Stelle programmatisch sagt: „Ich liebe den Versuch über alles. Der Versuch ist selbst schon eine Skulptur.“ Für Liechti ließe sich  das abwandeln: Auch er liebte den Versuch über alles, mit dem Ergebnis, dass fast alle seine Filme essayistische Form annahmen, also so etwas wie Selbstversuche mit und vor laufender Kamera wurden. Der große Erfolg, den er mit Signers Koffer hatte, stellt insofern eher eine Ausnahme in seinem Werk dar, allerdings eine, die es ihm ermöglichte, sich  in einem verwandten Geist zu spiegeln.

Die Holzstühle, die an einer Stelle von  Signers Koffer aus dem Kurhaus Weissbad geflogen kommen – in einer der vielen hier dokumentierten Detonationsarbeiten –, sind auch Requisiten jenes geregelten Lebens, das Liechti und Signer für ihre großen und kleinen Abenteuer aufgaben. Es sind Abenteuer, die manchmal nur darin bestehen, dass Signer sich eine Gummihose anzieht, die er dann mit Wasser aus einer Fontäne füllt, bis er nicht mehr stehen kann – das Prinzip Slapstick, das auf dem Prinzip von  Ursache und Wirkung beruht und das Fischli/Weiss in ihrer berühmten Arbeit Der Lauf der Dinge (1987) auf die Spitze trieben, wird hier an einen Punkt gebracht, an dem die Kettenreaktion unterbrochen wird und eine weiche Materialiät (nicht zuletzt die des menschlichen Körpers) sich  durchsetzt.

Eine absorbierende Materialität gab sich  auch immer wieder in den filmischen Formaten zu erkennen, die Liechti wählte. Die frühe Videotechnologie kam ihm entgegen, weil sie in das dokumentarische Arbeiten eine Unschärfe einführte, ähnlich dem Korn des analogen Films. Die sichtbare Pixelierung verweist ja auf Leerstellen in der Errechnung des Realitätsindexes, was sich  wiederum in Beziehung setzen lässt zu Liechtis deutlich literarisch geprägter Subjektivität. Er war nie ein registrierender Dokumentarist, einer, der sich  an den Repräsentationspotenzen des filmischen Bildes abarbeitete. Für ihn waren das Filmbild und in gleichem Maße der Ton jeweils Aspekte der Durchquerung von  Feldern, von  denen die Schweiz – die für Liechti wesentlich durch seine beiden Eltern bestimmt war – zentrale Bedeutung hatte.

In dem Wanderfilm Hans im Glück (2003) ging es um  den Versuch, sich  gehend das Rauchen abzugewöhnen. Liechti kam dabei bis in die hintersten Winkel der (Ost­) Schweiz – und besuchte zwischen­ durch auch seine Eltern.

Die Abgrenzung von  diesen beiden Musterbürgern machte aus Liechti einen Rebellen in mehrfacher Hinsicht: einen wilden Mann, der sich  mit avancierter Musik assoziierte (Kick That Habit, 1989; Hardcore Chambermusic, 2006) und der 1987 mit Joseph Beuys in einer Performance auf der documenta 8 einen Hut in Brand setzte, woran der Film A Hole in the Hat (1991) in einer radikal fragmentierten Form erinnert. 2013 kam Liechti auf die Szene mit seinen Eltern aus Hans im Glück zurück. Nun widmete er ihnen einen ganzen Film: Vaters Garten – Die Liebe meiner Eltern ist eine weitere Auseinandersetzung mit dem Ideal eines feinsäuberlich  geordneten Lebens, wie es der Garten repräsentiert, den sein hochbetagter, aber rüstiger Vater pflegt.

Die deutlich wahrnehmbare Stimmung einer Wiederannäherung konterkariert der Sohn mit Metal­Momenten im Soundtrack. Vor allem aber stellt Liechti der Intimität eines unmittelbaren Familienporträts eine objektivierende Instanz gegenüber: zwei  Hasenfiguren, die von  Handpuppenspielern bewegt werden. Sie verfremden die Gespräche seiner Eltern und heben sie auf eine allgemeinere Ebene. Die Anspielung auf das Genre der Tierfabel macht dabei durchaus Sinn, da diese in der Regel traditionelle Moralität auf eine fremde Gattung verschiebt, sie also implizit universal setzt. Liechti kehrt diesen pädagogischen Effekt um, indem er seine Eltern – für ihn die Sozialisationsagenten par excellence – in komischer Entstellung zeigt.

Zuletzt arbeitete Liechti an einem Projekt namens Dedications, das von  seiner lange bekämpften Krebserkrankung handeln sollte, die ihn am 4. April dieses Jahres im Alter von  nur 63 Jahren das Leben kostete. Inwiefern er hier noch an eine Fertigstellung denken konnte, ist vorläufig unklar. Tröstlich aber ist auf jeden Fall ein anderer seiner Filme, den er hinterließ:

Das Summen der Insekten – Bericht einer Mumie (2009) geht von  einer prekären Subjektivität aus,  nämlich von  einem japanischen Mann, der sich  in die Einsamkeit einer abgeschiedenen Gegend zurückzieht, um sich  durch Verhungern das Leben zu nehmen. Liechti stieß auf diese Geschichte durch einen literarischen Text von  Shimada Masahiko. Miira nu naru made (Bis ich zur Mumie werde, 1990)  stellt den Versuch dar, in der ersten Person von  einem mehrere Wochen dauernden Freitod zu erzählen; der Kurzgeschichte lag ein  tatsächlicher Fall zugrunde. Liechti ergänzte diese Erzählung durch eine audiovisuelle Perspektive. So entsteht ein höchst ambivalenter Eindruck aus Weltüberdruss und euphorischem Wirklichkeitskontakt. Das  Filmbild wird zur Membran, die beinahe greifbar macht, was der Mann zurücklassen wollte. Was bleibt, ist die Haut der Bilder, unter der im Werk von Peter Liechti zuletzt doch immer deutlicher erkennbar geworden war, dass sie eine Euphorie verbarg, von der er sich nie blöd machen ließ.

Bert Rebhandl lebt als freier Journalist, Autor und Übersetzer in Berlin. Er ist Mitbegründer und Herausgeber des Magazins Cargo.

 

 

Index Textes


 Livres, Editions 
»Peter Liechti – DEDICATIONS« (Scheidegger&Spiess Zürich, 2016)
Peter Liechti: »Klartext. Fragen an meine Eltern« (Vexer Verlag St.Gallen, 2013) *)
Peter Liechti: »Lauftext - ab 1985« (Vexer Verlag St.Gallen, 2010) *)
Peter Liechti: Waldschrat. Sechsteilige Fotoserie (Vexer Verlag St.Gallen, 2011)

 Par Peter Liechti 
Carte Blanche Peter Liechti (Jahresbericht ARF/FDS 2011; deutsch)
Carte Blanche Peter Liechti (Rapport annuel ARF/FDS 2011; français)
«Viel zu wenige Künstler stürzen ab» (Peter Liechti im Gespräch mit Marcel Elsener)
»Kinodokumentarfilm – Fernsehdokumentarfilm« – Text zur Rencontre ARF/FDS 2006 von Peter Liechti
«Le documentaire de cinéma – le documentarie de télévision» – Texte pour la Rencontre ARF/FDS 2006 de Peter Liechti
Es boomt um den Schweizer Film, von Peter Liechti, Neue Zürcher Zeitung, 30.Juni 2000
Dunkle Stirnen, helle Geister, von Peter Liechti, Tages Anzeiger, September 1997

 A propos de Peter Liechti 
Von Menschen und Hasen (Alexander Weil in www.literaturkritik.de)
Im weitesten Winkel (Bert Rebhandl in FRIEZE)
The Wanderer (Bert Rebhandl in FRIEZE)
Die Kunst des Abschieds (Christoph Egger, Ansprache Gedenkfeier St.Gallen
Konfrontationen mit dem innern Dämon (Christoph Egger, Nachruf in der NZZ)
Der Einzel-, Doppel- und Dreifachgänger (Christoph Egger, Filmbulletin 1/2014)
Im Luftschiff mit Peter Liechti (Tania Stöcklin, Katalog Solothurner Filmtage 2014)
En dirigeable avec Peter Liechti (Tania Stöcklin, Catalogue Journées de Soleure 2014)
Open-Ended Experiments (Matthias Heeder, Katalog DOK Leipzig 2013)
Offene Versuchsanordnung (Matthias Heeder, Katalog DOK Leipzig 2013)
Peter Liechti, Sismographe (Bernard Tappolet, Le Courrier, 3 septembre 2011)
Laudatio auf Peter Liechti (Fredi M. Murer, Kunstpreis der Stadt Zürich)
Landschaften, befragt, mit Einzel-Gänger (Christoph Egger, Laudatio Kulturpreis St.Gallen)
Kino zum Blättern? Jein! (Florian Keller)
Das grosse alte Nichts heraushören – und es geniessen (Adrian Riklin)
«Sans la musique, la vieserait une erreur» – Collages et ruptures pour Peter Liechti (Nicole Brenez)
Tönende Rillen (Josef Lederle)
The Visual Music of Swiss Director Peter Liechti (Peter Margasak)
A Cinematic Poetics of Resistance (Piero Pala)
Aus dem Moment heraus abheben – Peter Liechtis Filme (Bettina Spoerri, NZZ, 19.8.2008)
Sights and Sounds – Peter Liechti's Filmic Journeys, by Constantin Wulff
Letter from Jsaac Mathes
Passage durch die Kinoreisen des Peter Liechti (Constantin Wulff)
Gespräch mit Peter Liechti (Constantin Wulff)
Tracking Peter Liechti's cinematic journeys (Constantin Wulff)
Interview with Peter Liechti (Constantin Wulff)
Interview zu »Namibia Crossings«, in: Basler Zeitung, 23.9.2004
Dokumentarische Haltung. Zu »Hans im Glück«, in: NZZ, 2004
Jäger, Forscher oder Bauer, Interview von Irene Genhart mit Peter Liechti, Stehplatz, April 1996
Excursions dans le paysage, de Michel Favre, Drôle de vie, numéro 8, Dezember 1990
Duckmäuse im Ödland, von Marianne Fehr, WoZ Nr.21, 23.Mai 1990

  Diverses 
Gedenkanlass im Filmpodium Zürich -- in Vorbereitung

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______________________
*)
 Inhalt Peter Liechti: «Lauftext – ab 1985» 

Sprechtext zum Film AUSFLUG INS GEBIRG, 1985
Zwei Versuche aus dem Jahr 1987
«Unrast», Arbeitstexte zu MARTHAS GARTEN, 1988 ‑ 1989
Reisenotizen aus den USA, 1990
Logbuch 1995 ‑ 1997
Logbuch 1998 ‑ 1999
Reisenotizen aus dem Südsudan, 1999
Recherchen Namibia, Rohtexte zu NAMIBIA CROSSINGS, 1999
Erstes ungekürztes Marschtagebuch zu HANS IM GLÜCK, 1999
Logbuch 2000 ‑ 2001
Zweites ungekürztes Marschtagebuch zu HANS IM GLÜCK, 2000
Drittes ungekürztes Marschtagebuch zu HANS IM GLÜCK, 2001
Logbuch 2002
Logbuch 2003
Logbuch 2004
Logbuch 2005
Logbuch 2006
Logbuch 2007
Logbuch 2008
Logbuch 2009
Logbuch 2010 (bis Mai)


Details zum Buch

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