PETER LIECHTI (1951-2014)
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Dokumentarische Haltung / HANS IM GLUECK

von Peter Liechti


"Was hat sich denn verändert in all den Jahren? Ich weiss es nicht... Das ist die Veränderung. Wenn ich früher immer was zu sagen wusste, so sag' ich heut': Ich weiss es nicht. Wenn mich einer fragt: was machst du denn so? – ich weiss nicht. Und wie geht's weiter? – ich weiss es nicht. Manchmal weiss ich nicht einmal, ob mir ein Film gefallen hat, oder ein Buch, oder ein Mensch..."

Soweit ein Zitat aus dem "HANS IM GLUECK". Da dieser Film recht ungebrochen meine aktuelle "Haltung" zum Ausdruck bringt, lässt sich denken, dass ich hier keine grossen Thesen oder Manifeste zum Besten geben werde. Viel mehr erwünsche ich mir für das eigene Schaffen eine möglichst radikale Offenheit, vor allem aber die Energie, nie den Mut zu verlieren zur Hinterfragung der eigenen Position – unter welchen Umständen auch immer. 

Un-Ruhe und Un-Sicherheit halte ich für einen kreativeren Zustand als professionelle Routine und abgeklärte (Selbst-)Sicherheit. Dementsprechend mag ich das Experiment – nicht als Neu-Erfindung der filmischen Mittel, sondern als eine bestimmte Versuchsanordnung, innerhalb derer sich ein Film möglichst frei entwickeln kann. Ich verstehe die Arbeit an einem Film (vor allem den Dreh) als eine sehr persönliche Situation, als eine Episode des Erfahrungen-Sammelns, zuweilen auch als ganz bewusstes Risiko. 
Das macht es oft schwierig, Geldgeber für ein Projekt zu gewinnen – es sei denn, diese sind bereit, Risiken mit einzugehen, weil sie meine Neugierde teilen, oder weil sie akzeptieren können, dass zu einem Versuch auch das Scheitern gehört. Oder sie kennen die Erfahrung, dass im Scheitern mehr Erkenntnis- (und Unterhaltungs-) wert liegen kann als im wunschgerechten Ablauf eines gegebenen Plans, dem sogenannt gelungenen Versuch. 

Am Anfang eines neuen Kino-Films steht für mich meist weniger eine bestimmte Idee, als vielmehr der Wunsch, etwas herauszufinden. Die Hoffnung, einem Thema näher zu kommen, welches für mich "reif" geworden ist. Da sind zwar Motive, Bilder, Abläufe, Musik... , aber niemals eine fertige Geschichte, die es einfach nachzuerzählen gilt. Keine Suggestiv-Fragen an mich selbst, um sie dann schön der Reihe nach zu beantworten. Ich habe es auch nicht darauf abgesehen, etwas zu beweisen oder zu behaupten. Ich kann allenfalls etwas berühren, oder ich kann um ein Thema herum kreisen, soviel als möglich vom Umfeld zeigen, so dass sich jeder das Zentrum selber vorstellen kann. Dazu brauche ich ein Gefährt, ein einfaches/strenges Grundkonzept; die Route wird aber so offen wie möglich gehalten. 
Manchmal stelle ich fest, dass sich das eigentliche Thema eines Films erst im Verlauf der Arbeit herausbildet. Oft wird mir erst im Nachhinein klar, was ich eigentlich gesucht hatte. Die Arbeit am Film – vor allem in den sehr langen Phasen der Montage – wird zum persönlichen Forschungs-Prozess, welcher vielleicht zu einer gewissen Klärung führt. Wenn es gelingt, diese Erfahrung nachvollziehbar zu machen und mit-zu-teilen, d.h. zu teilen mit dem Publikum, dann bin ich schon sehr zufrieden. Geteilte Freude ist doppelte Freude, geteilter Schmerz ist halber Schmerz – geteilt mit meinem Publikum... 
Als Zuschauer habe ich genau den gleichen Reflex: Wird mir eine schöne Geschichte erzählt oder ein aktuelles Thema vorgestellt, doch der Film bleibt "anonym", dann fühl' ich mich auch nicht angesprochen. Spür' ich aber den Blick, das Suchen, den Witz, die Wut... eines Autors, so hat der Film eine Identität, und ich bin viel eher bereit, mich einzulassen und mit-zu-erleben.

Wenn ich etwas beschreibe, so ist mir bewusst, dass ich die Welt ja nur mit meinen Augen sehen kann, aus meiner Haut heraus, dass ich also nur beschreiben kann, was ich sehe. Die Kamera vergrössert diesen Spielraum erheblich; sie gibt mir erst die Möglichkeit, meinen Blick mit anderen zu teilen – zumindest sehen/meinen alle das gleiche Bild, und darüber lässt sich dann diskutieren. 
Ich bin sehr enttäuscht, wenn die Leute nach der Vorstellung gleichgültig aus dem Kino laufen; dann habe ich was falsch gemacht. Gänzlich unverzeihlich finde ich es, das Publikum zu langweilen. Am langweiligsten wird mir allerdings bei der Vorstellung, mich von Anfang an nur um den Unterhaltungswert einer Arbeit kümmern zu müssen, später dann zitternd hinten im Saal zu sitzen, um zu erfahren, ob auch tatsächlich an der "richtigen" Stelle gelacht wird, und ob auch bestimmt keiner gähnt, wenn ich mal eine Einstellung länger als 10 Sekunden stehen lasse. 
Ich gestehe offen, ich denke nur selten ans Publikum während der Arbeit. Da bin ich voll und ganz damit beschäftigt, das Geschehen vor der Kamera/auf dem Monitor des Schnitt-Computers erst einmal auf mich selber wirken zu lassen. Und ich vertraue darauf, dass das (und nur das), was mich selber berührt und interessiert, schliesslich auch die Zuschauer interessieren wird. Nur was ich selber glaube, wird mir auch von den anderen geglaubt. Nur was mich selber befriedigt, wird auch mein Publikum zufrieden stellen.

Es freut mich sehr, dass der Non-fiction-Film in letzter Zeit zunehmende Erfolge feiert in unseren Kinos. Und ich bedaure zugleich, dass sich der sogenannte "Dokumentarfilm" mehr und mehr dem Lieblingskind der Massenmedien anzugleichen scheint, dem Magazin-Beitrag – bis hin zur Anbiederung mit zeitgeistigen Themen-Charts. Neben den grossen Namen aus Pop- und Polit-Prominenz und all den lauten Aktualitäten hat das sperrig Herausfordernde, das eigenwillig Nachdenkliche, das Stille kaum noch Chancen bei einem zwar eifrigen und gebildeten, doch äusserst gestressten Publikum. Gewohnt, alles möglichst effizient zu "erledigen", scheint sich die High Tech-Generation auch in der Freizeit alles nur noch "auf die Schnelle" reinziehen zu wollen, und zwar als möglichst bekömmliche, einfach gefasste und aufgekratzt vorgetragene Kino-Häppchen. 

Der andere Trend, der sicher dazu beiträgt, den Dokumentarfilm populärer und "kino-gerechter" zu machen, zeigt sich in einer Anpassung des erzählerischen Aufbaus an die Dramaturgie des Spielfilms: Ein Thema wird zum Drama oder Thriller aufbereitet, die ProtagonistInnen werden zu Helden/Opfern/Stars, und die Zuschauer lassen sich von ihren Emotionen leiten, von ihren Sympathien und ihrem Geschmack. Der neue Gefühls-Doku setzt auf eindeutige Aussagen, die weder (beunruhigenden) Fragen offen lassen noch gross den eigenen Intellekt belasten. Dokumentarische Genauigkeit wird ersetzt durch reisserische Einstellungen und manipulative Dramaturgie, anstelle des persönlichen Standpunkts tritt eine diffus aufklärerische Attitüde ("Haltung"). 

Die rasende technische Entwicklung, die galoppierende Ent-Wertung des Werks zum Produkt (von "Kunst" trau ich mich schon gar nicht mehr zu reden), das von der vernichtenden Warenschlacht genau so erfasst ist wie alle anderen Lebensbereiche... alles das lässt zuweilen einen gefährlichen Überdruss an der eigenen Arbeit aufkommen, eine Versuchung zur nostalgischen Umkehr zu früheren, "echten" Werten. Wenn es eine "Haltung" gibt, mit der ich mich gegen diese künstlerische Sackgasse (oder Kapitulation) zu wappnen suche, so ist es die: Im gegenwärtigen Boom sorgfältig zu unterscheiden zwischen kreativer Vitalität und leerer Betriebsamkeit (der Umsatz!) – und möglichst viel Energie zu gewinnen durch das Profitieren vom einen resp. die konsequente Enthaltsamkeit beim anderen. 
Die grösste Hürde, die es zu überwinden gilt bei einer neuen Arbeit, sind die eigenen Zweifel. Ohne ausreichende Überzeugung – und Lust! – finde ich niemals die Kraft, andere von meinem Projekt zu überzeugen. Immer wichtiger werden mir deshalb gewisse Methoden und Rituale, mit denen ich mich selbst zu neuen Taten motiviere. Oft schreibe ich mir zu Beginn eines neuen Films eine "Wunschliste" auf – pendente Pläne und Vorsätze, die es zu verwirklichen gilt im nächsten Projekt (durchaus zu vergleichen mit den jährlich sich wiederholenden Silvester-Sentimentalitäten...). 

Zum Abschluss hier ein paar Stichworte aus diesem "Wunsch- und Ideen-Reservoir" aus dem Dossier HANS IM GLÜCK:

Ich wollte schon lange (wieder) einmal:

 

Index Textes


 Livres, Editions 
»Peter Liechti – DEDICATIONS« (Scheidegger&Spiess Zürich, 2016)
Peter Liechti: »Klartext. Fragen an meine Eltern« (Vexer Verlag St.Gallen, 2013) *)
Peter Liechti: »Lauftext - ab 1985« (Vexer Verlag St.Gallen, 2010) *)
Peter Liechti: Waldschrat. Sechsteilige Fotoserie (Vexer Verlag St.Gallen, 2011)

 Par Peter Liechti 
Carte Blanche Peter Liechti (Jahresbericht ARF/FDS 2011; deutsch)
Carte Blanche Peter Liechti (Rapport annuel ARF/FDS 2011; français)
«Viel zu wenige Künstler stürzen ab» (Peter Liechti im Gespräch mit Marcel Elsener)
»Kinodokumentarfilm – Fernsehdokumentarfilm« – Text zur Rencontre ARF/FDS 2006 von Peter Liechti
«Le documentaire de cinéma – le documentarie de télévision» – Texte pour la Rencontre ARF/FDS 2006 de Peter Liechti
Es boomt um den Schweizer Film, von Peter Liechti, Neue Zürcher Zeitung, 30.Juni 2000
Dunkle Stirnen, helle Geister, von Peter Liechti, Tages Anzeiger, September 1997

 A propos de Peter Liechti 
Von Menschen und Hasen (Alexander Weil in www.literaturkritik.de)
Im weitesten Winkel (Bert Rebhandl in FRIEZE)
The Wanderer (Bert Rebhandl in FRIEZE)
Die Kunst des Abschieds (Christoph Egger, Ansprache Gedenkfeier St.Gallen
Konfrontationen mit dem innern Dämon (Christoph Egger, Nachruf in der NZZ)
Der Einzel-, Doppel- und Dreifachgänger (Christoph Egger, Filmbulletin 1/2014)
Im Luftschiff mit Peter Liechti (Tania Stöcklin, Katalog Solothurner Filmtage 2014)
En dirigeable avec Peter Liechti (Tania Stöcklin, Catalogue Journées de Soleure 2014)
Open-Ended Experiments (Matthias Heeder, Katalog DOK Leipzig 2013)
Offene Versuchsanordnung (Matthias Heeder, Katalog DOK Leipzig 2013)
Peter Liechti, Sismographe (Bernard Tappolet, Le Courrier, 3 septembre 2011)
Laudatio auf Peter Liechti (Fredi M. Murer, Kunstpreis der Stadt Zürich)
Landschaften, befragt, mit Einzel-Gänger (Christoph Egger, Laudatio Kulturpreis St.Gallen)
Kino zum Blättern? Jein! (Florian Keller)
Das grosse alte Nichts heraushören – und es geniessen (Adrian Riklin)
«Sans la musique, la vieserait une erreur» – Collages et ruptures pour Peter Liechti (Nicole Brenez)
Tönende Rillen (Josef Lederle)
The Visual Music of Swiss Director Peter Liechti (Peter Margasak)
A Cinematic Poetics of Resistance (Piero Pala)
Aus dem Moment heraus abheben – Peter Liechtis Filme (Bettina Spoerri, NZZ, 19.8.2008)
Sights and Sounds – Peter Liechti's Filmic Journeys, by Constantin Wulff
Letter from Jsaac Mathes
Passage durch die Kinoreisen des Peter Liechti (Constantin Wulff)
Gespräch mit Peter Liechti (Constantin Wulff)
Tracking Peter Liechti's cinematic journeys (Constantin Wulff)
Interview with Peter Liechti (Constantin Wulff)
Interview zu »Namibia Crossings«, in: Basler Zeitung, 23.9.2004
Dokumentarische Haltung. Zu »Hans im Glück«, in: NZZ, 2004
Jäger, Forscher oder Bauer, Interview von Irene Genhart mit Peter Liechti, Stehplatz, April 1996
Excursions dans le paysage, de Michel Favre, Drôle de vie, numéro 8, Dezember 1990
Duckmäuse im Ödland, von Marianne Fehr, WoZ Nr.21, 23.Mai 1990

  Diverses 
Gedenkanlass im Filmpodium Zürich -- in Vorbereitung

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______________________
*)
 Inhalt Peter Liechti: «Lauftext – ab 1985» 

Sprechtext zum Film AUSFLUG INS GEBIRG, 1985
Zwei Versuche aus dem Jahr 1987
«Unrast», Arbeitstexte zu MARTHAS GARTEN, 1988 ‑ 1989
Reisenotizen aus den USA, 1990
Logbuch 1995 ‑ 1997
Logbuch 1998 ‑ 1999
Reisenotizen aus dem Südsudan, 1999
Recherchen Namibia, Rohtexte zu NAMIBIA CROSSINGS, 1999
Erstes ungekürztes Marschtagebuch zu HANS IM GLÜCK, 1999
Logbuch 2000 ‑ 2001
Zweites ungekürztes Marschtagebuch zu HANS IM GLÜCK, 2000
Drittes ungekürztes Marschtagebuch zu HANS IM GLÜCK, 2001
Logbuch 2002
Logbuch 2003
Logbuch 2004
Logbuch 2005
Logbuch 2006
Logbuch 2007
Logbuch 2008
Logbuch 2009
Logbuch 2010 (bis Mai)


Details zum Buch

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