PETER LIECHTI (1951-2014)
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Christoph Egger

Die Kunst des Abschieds

Ansprache, gehalten aus Anlass der Gedenkfeier für Peter Liechti am 22. Mai 2014 in der Lokremise St. Gallen

«Es gibt Tage, da macht einem die sogenannte Vergänglichkeit zu schaffen. Zum Glück sind aber auch diese Tage nur Teil derselben Vergänglichkeit.» Peter Liechti hat sich den Satz während der Arbeit an «Vaters Garten» notiert, also irgendwann zwischen Januar 2010 und Dezember 2012, die er als Eckdaten für die damals niedergeschriebenen «Selbstgespräche» nennt. Die drei Jahre markieren zugleich die ersten drei Viertel der letzten Phase seines Lebens, die uns nun im Rückblick nicht nur als die schmerzlichste, sondern auch als die reichste, erfüllteste erscheinen will. Peter Liechti ist, da besteht kein Zweifel, vor der Zeit gestorben. Er war nicht «bereit» zu «gehen», er war noch nicht fertig: nicht mit sich, nicht mit seiner Krankheit und nicht mit dem, was er filmisch noch zu sagen hatte. «Das Urteil scheint gefällt», heisst es im Treatment zu «Dedications», seinem letzten, Fragment gebliebenen Filmprojekt, «doch der Prozess hat erst begonnen.» Im Forschungsprojekt, zu dem ihm sein eigenes Leben zunehmend geworden war, schienen ihm wesentliche Fragen noch nicht beantwortet, jedenfalls nicht schlüssig beantwortet. Und wenn er sich darauf freute, in Zukunft wieder mehr schreiben zu können, so heisst es im erwähnten Treatment eben auch, dass er «bezweifle, dass es beim Schreiben in erster Linie um das Festhalten von Inhalten geht. Vielmehr geht es um den Versuch, an meiner Mitgliedschaft bei den real Existierenden festzuhalten.» Doch er hat das Gefühl, er sei «äffchenklein geworden»: «Kleine Schreib-Häufchen, mehr kriege ich nicht hin zurzeit.»

«Dedications» lautete der Arbeitstitel zu diesem Projekt, dem er unter Aufbietung aller Kräfte das letzte Jahr seines Lebens gewidmet hat: das heisst das, was ihm unerträgliche Schmerzen, bis zur völligen Erschöpfung durchlittene Therapien, die Promotionsarbeit für «Vaters Garten» mit ihren zahlreichen Interviews und Auftritten und nicht zuletzt die immer wieder grosszügig eingeplanten Momente mit Familie und Freunden noch an Zeit zugestanden. Wir können nicht sagen, was für ein Film daraus geworden wäre, offenbar hatte er vor, vor allem bisher nicht verwendetes Material aus den vergangenen Jahrzehnten zu einer, wie er sagte, «Feier des Lebens» zu montieren, zu der ihn seine Erkrankung antrieb. Das ursprüngliche Konzept – daher der Titel «Dedications/Widmungen» – hatte eine Trilogie vorgesehen mit drei abendfüllenden Filmen, zu Robert Walser, zu Vincent van Gogh (den beiden Künstlern, die ihm in der Literatur und in der Malerei am meisten bedeuteten) sowie zum «Unbekannten Häuptling», wie er ihn nannte, aus dem Volk der Dinka, dem er bei der Begleitung einer Mission von Médecins sans frontières im Südsudan 1999 begegnet war. Ins Bild gekommen wäre auch das Psychiatriemuseum Gent und ins Wort, wie schon in «Hans im Glück», der als Maler und als Poet gleicherweise verehrte Dieter Roth. Zu den «Zeitreisen» an den «Sehnsuchtsort Afrika» wären die «akustischen Erinnerungen hinzugetreten: ‹Störgeräusche› als eigentliche Stimmungsträger, Generatoren, Klimaanlagen, Flugzeugmotoren, Pumpen, Funkverkehr». «Spaziergänge und Träume» hätten Robert Walser die Ehre erwiesen, «ausschliesslich in neuen und älteren Schwarzweiss-Super-8-Aufnahmen von Ostschweizer Landschaften». In einem vierten Teil schliesslich wäre es um «Das Spital» gegangen: «Wenig bewegtes Bild, stark bewegter Ton: Schnaufen und Schnarchen der Männer, Piepsen und Scheppern der Apparaturen, Rollen der Wägelchen, Pfeifen der Üetlibergbahn». Dieses «Spitalszenarium» hätte «etwas Gespenstisches» haben müssen. Hinsichtlich der «Ästhetik» wird die «‹schlechte› technische Qualität von Bild und Ton» hervorgehoben. Die Aufnahmen im Spital hat der Regisseur zusammen mit seinem langjährigen Kameramann Peter Guyer noch diesen Januar machen können.

Vieles im Treatment von «Dedications» deutet darauf hin, dass Peter Liechti formal etwas Ähnliches wie in «The Sound of Insects» im Sinn hatte. Mit dem Unterschied, dass es nun ein Film über ihn selber werden sollte. Hier wäre es, wie in «Hans im Glück» und schon im frühen «Ausflug ins Gebirg» explizit um ihn gegangen. Und auf der Hand liegt, dass auch «Vaters Garten – Die Liebe meiner Eltern» letztlich ebenso vom Sohn handelt wie von den Eltern. Ob Peter Liechti gewusst, geahnt hat, dass die Reise in den Tod, die «The Sound of Insects» auf mehreren Ebenen unternimmt, zu seiner eigenen werden könnte? Die Diagnose – die erste von den vielen, die in den kommenden Jahren folgen sollten – hatte er zum Zeitpunkt der Arbeit am Film noch nicht. Dass es «seine» Bilder sind, mit denen er hier die Wege des flackernden, erinnerungstrunkenen, allmählich verlöschenden Bewusstseins dieses unbekannten Sterbenden zu visualisieren sucht, wäre als Erkenntnis trivial. Aber die Frau im Ruderboot, von deren Gesicht man im frontalen Gegenlicht nichts sieht, während die Sonne ihren Haarkranz illuminiert, die Frau, die da als ferne Gestalt an einem Strand steht und ganz langsam mit den Armen winkt (was im fertigen Film dann dazu führen wird, dass der Zeitraffer, der nun Normalgeschwindigkeit suggeriert, die Meereswogen in unheimlicher, physikalisch unmöglicher, drängender Eile heranbranden lässt) – diese Frau, die den Bootsdienst in eine andere Welt zu versehen scheint, diese Frau, die, dem Adressaten schon unerreichbar, wie zum Abschied winkt, ist seine, des Filmemachers Frau.

Ende Januar konnte er noch die «Rencontre» wahrnehmen, die ihm die Solothurner Filmtage ausgerichtet hatten und wo er nach Vorführungen seiner Filme mit dem Publikum diskutierte, klug, präzis, aufschlussreich – obwohl er derlei Veranstaltungen eigentlich als falsch empfand. «Das sogenannte Q & A nach der Filmpremiere», sagt er in den erwähnten «Selbstgesprächen», «ist ein rund um die Welt verbreitetes Ritual, welches dem Publikum das Verstehen erleichtern soll … Abgesehen davon, dass ich grundsätzlich gegen solche Erleichterungen bin, glaube ich nicht daran, dass der Künstler – vorausgesetzt, das Werk ist ihm gelungen – diesem noch viel beizufügen hat. Künstler sind oft die schlechtesten Interpreten ihrer eigenen Arbeit, und wenn sie beginnen, sich zu erklären, so höre ich (fast immer) weg, um mir mein Erlebnis im Nachhinein nicht verderben zu lassen. Das Q & A ist im Grunde eine institutionalisierte Demontage des Werks an Ort und Stelle – perverserweise mit aktiver Beteiligung des Künstlers.»

«Wie kommt es im übrigen», fährt er fort, «dass von den Filmemachern immer wieder Antworten erwartet werden? Ausgerechnet von uns? Dafür sind doch die anderen da, die Lehrer, die Pfarrer, die Journalisten, die Filmwissenschafter … Als Künstler kann ich höchstens auf etwas hinweisen – und selber Fragen stellen. Ich wünsche mir jedenfalls keine Gebrauchsanweisung» – als solche galt ihm par excellence das sogenannte Bonusmaterial bei den DVD –, «weder vor noch nach dem Film.» Entsprechend hat Peter Liechti, obwohl ein politisch bewusster Kopf – der zur begrenzten Freude seiner Berufskollegen immer wieder auch filmpolitisch Unkorrektes vertrat –, das Politische nachdrücklich von seinen Filmen ferngehalten. «Wollt ihr etwa von Samir regiert werden?» knurrte er unwillig, nachdem sich der Filmemacher ganz hinten auf einer Liste für den Zürcher Gemeinderat [das Parlament] hatte portieren lassen.

Die Präsenz in Solothurn sowie, in derselben Woche, diejenige bei der Genfer Vorpremiere für den Start von «Vaters Garten» in der Romandie markierten das Ende jenes glücklichen, schmerzfreien Vierteljahrs, das ihm ein neues Medikament verschafft hatte, bevor sich auch dessen Wirkung erschöpfte. Sechs Wochen später war es ihm nicht mehr möglich, an der Eröffnung einer Retrospektive seiner Filme in Berlin teilzunehmen, und die Nachricht, dass er den «Quartz», den Schweizer Filmpreis für den besten Dokumentarfilm des vergangenen Jahrs, für «Vaters Garten» erhalten habe, erreichte ihn im Spital. Auf den Tag zwei Wochen danach ist er gestorben.

Die Auszeichnung – die er längst hätte bekommen sollen, schon 2004 für «Hans im Glück», ohnehin 2010 für «The Sound of Insects» – war spät gekommen, aber immerhin noch rechtzeitig. Schön an diesem späten Termin ist, dass Tania Stöcklin, die grossartige Cutterin, der alle drei Titel enorm viel verdanken, nun auch noch den Preis für den besten Schnitt erhielt. Obwohl Peter Liechti in den letzten Jahren auch hierzulande wichtige Preise erhalten hat, nicht zuletzt hier, in St. Gallen, in dieser Lokremise, blieb er doch lange ein bekannter Unbekannter. Allerdings war er nie «verkannt» – die Filmbranche, dann auch die Fördergremien wussten durchaus um sein Potenzial, das auch zahlreiche Auszeichnungen und Werkschauen an ausländischen Festivals belegten. Das Publikum wollte seine Filme schlicht nicht sehen. Das wäre vielleicht anders gewesen, hätte er nach seinem grössten Kinoerfolg, «Signers Koffer» von 1995, der auch sein erster Kinofilm war, auf dieser Schiene weitergemacht. Aber diese zusammen mit dem Künstler entwickelte, in mancherlei Hinsicht phantastische Evokation und Aufbereitung von Roman Signers «Momentkunst» – die hier zu einer Kunst der «gedehnten Zeit» weiterentwickelt wurde – war ein Abschluss, kein Auftakt. Erst «Vaters Garten», fast zwanzig Jahre später, hat nun beim Publikum wieder eine ansehnliche Resonanz gefunden. Dazwischen aber Kinoeintrittszahlen, die gegen null tendierten: vom 1997 in Locarno uraufgeführten «Marthas Garten», seinem in Schwarzweiss gedrehten einzigen Spielfilm, dessen Experimentierlust und schwarzer Humor immer wieder an die frühen Filmen Polanskis denken lassen, über «Hans im Glück» von 2003, «Namibia Crossings» von 2004, «Hardcore Chambermusic» von 2006 bis zu «The Sound of Insects» von 2009. Es sind dies Zahlen, die weniger von der Notwendigkeit ihrer künstlerischen Vision überzeugte Naturen wohl zur Berufsaufgabe bewogen hätten. Nur am Rand sei erwähnt, dass selbst «Signers Koffer» mit um 20 000 Eintritten in der Deutschschweiz und «Vaters Garten» mit seinen bisher über 13 000 Eintritten in der Romandie jeweils gerade ein paar hundert Eintritte realisierten – eine nicht anders als jämmerlich zu nennende Bilanz.

Durch die Geschlossenheit und innere Kohärenz seiner Arbeiten hat Peter Liechti das bedeutendste filmkünstlerische Œuvre der Schweiz der letzten zwanzig Jahre geschaffen. Und er war einer der wenigen unter den heute tätigen Filmautoren, deren Werke internationales Format besitzen. Trotzdem ist es nicht so, dass er diese Misserfolge an der Kinokasse achselzuckend weggesteckt hätte. Die zahlreichen Festivaleinladungen und -auszeichnungen, das Interesse der Fördergremien bestätigten ihm zwar, dass seine Arbeit auch Zuspruch fand, und zwar beständigen. Und sie waren ihm Ansporn, etwas zu wagen und nicht einfach auf Formeln des geringsten Widerstands zu setzen. – Er freute sich über Anerkennung, bloss dass seine Lieblingsgegenden vielleicht nicht so sehr fürs Feiern eingerichtet waren. Ich erinnere mich, wie wir zu dritt, Peter, Jolanda, seine Frau, und ich, an einem Sonntag im Frühherbst 2009 oberhalb von Trogen auf einem längeren Spaziergang waren, als er einen Telefonanruf erhielt. Es war die Mitteilung von einem der Jurymitglieder, dass er eben den Europäischen Dokumentarfilmpreis für «The Sound of Insects» zugesprochen erhalten habe. Peter Liechti war damit der erste Schweizer Preisträger dieser Auszeichnung. Das rufe nach einer Flasche oder mindestens einem Glas Champagner, befand Peter. Doch in Trogen war weder das eine noch das andere zu haben und ebenso wenig in Rehetobel, wo wir später einkehrten.

Es war ihm sehr wohl ein Anliegen, dass auch das Publikum – nicht das breite, doch ein künstlerischen Fragestellungen gegenüber offenes – seine Filme zur Kenntnis nahm. Grosse Hoffnungen hatte er sich diesbezüglich besonders bei «The Sound of Insects» gemacht. Doch wenn das Publikum wittert – und hier hat es immer wieder eine erstaunlich feine Nase –, dass es beim Film, in dem ein Raucher auf Entzug gegen seine eigene Sucht ankämpft, oder dass es beim Protokoll eines freiwilligen Sich-Zutode-Hungerns nicht um Melodramen über Sterben und Tod geht, sondern um Versuche, den Widersprüchen und Rändern unserer Existenz auf eine Weise beizukommen, die auf künstlerische Erkenntnis statt moralische Erbauung setzt, dann kommt es nicht.

Am Ende des zweiten «Versuchs», wie er seine Märsche von «Hans im Glück» betitelte, stattet er der Onkologie des Kantonsspitals St. Gallen einen Besuch ab, genauer, der Abteilung, wo sich die schweren Raucher finden. «Was mir hier vor Augen geführt wird, ist die Einlösung eines bösen Versprechens; gewusst hatten sie ja alle davon, doch geglaubt hat es keiner … Der Lungenkrebs sei der schlimmste, sagt mir der Arzt auf der Abteilung. […] Während sich die Todeskandidaten alle freundlichst bemühen, gelassen zu erscheinen, lauf ich hier als Nervenbündel rum, als einer, der keine Ahnung hatte, wie gross sein eigener Schiss vor dem Tode ist. Auch ist mir die Vorstellung unerträglich, dass hier gestorben werden muss, dass es einen Punkt gibt, wo's zu spät ist, wo es keine Rolle mehr spielt, ob man aufhört oder einfach weiterraucht …» Gleichsam den Gegenpol verkörpert die reizende, lebenskluge alte Dame, die er im Altersheim kennenlernt, in dem einst seine Grossmutter war, und die auf berührende Art davon zu sprechen weiss, wie sehr sie den Tod herbeisehnt. Ein Jahr später, beim folgenden Marsch, besucht er sie wieder. Sie ist, nun nahe den hundert, sichtlich gealtert, und sterben durfte sie noch immer nicht.

Nun ist «Hans im Glück» zwar sehr wohl ein Film über das Rauchen und das fast schon verzweifelte Bemühen, davon loszukommen, aber es ist gewiss nicht in erster Linie ein Film über Sterben und Tod. Vielmehr zeigt sich aus der Distanz eines Jahrzehnts, dass wir hier das genauste, subtilste und zugleich umfassendste Bild der Schweiz der Jahrtausendwende – die drei Fussmärsche von Zürich nach St. Gallen umfassen die Jahre 1999, 2000 und 2001 – erhalten haben, das der Schweizer Film überhaupt geschaffen hat. Und es ist nicht bloss «die Ostschweiz», die wir hier zu sehen bekommen, nicht nur die Schönheit des Appenzells oder des Thurgaus, es sind auch die Städte mit ihren Agglomerationen, es sind die schäbigen Hotels und unsympathischen Beizen. So ist das alles durch ein Bewusstsein gefiltert, das den eigenen Ausflüchten und Schutzbehauptungen ebenso unerbittlich auf die Finger klopft, wie es scharf und genau den Blick auf die ästhetischen Zumutungen richtet, die die Umwelt bei ihrem Auftritt so bereithält. Und zugleich weiss es das Glück des Daseins zu erkennen, wo ihm Menschen, Tiere und Landschaften in ruhiger Selbstgewissheit entgegentreten. «Hans im Glück» ist ein Meisterwerk, dessen Konturen von Jahr zu Jahr deutlicher aus der Schweizer Filmgeschichte hervortreten werden.

Es ist keineswegs eine «Rückprojektion» auf Grund von Peter Liechtis unzeitigem Tod, wenn wir die Bedeutung des «Todesthemas» in seinen drei grossen Filmen hervorheben. Von seiner Krankheit wusste er erst, als er die Arbeit am dritten und letzten aufgenommen hatte. «Ein bleiches Beige beherrscht das Ambiente im Zimmer», notiert der Filmemacher während der Arbeit an «Vaters Garten – Die Liebe meiner Eltern», «und plötzlich riecht es nach Tod. Vielleicht hat es hier schon immer nach Tod gerochen. Und vielleicht bin ich es, der diesen Leichengeruch mit heraufbringt. Vielleicht schleiche ich hier nur noch als Gespenst in der eigenen Kindheitsgruft herum und habe einfach aufgehört zu leben, um aus den halbverwesten Innereien der Vergangenheit noch einmal einen Blick in diese Stube zu werfen.» Wem er dort auch noch begegnet: dem «feindseligen Mobiliar». «Wer sich gegen diese Ordnung sträubt, wird sofort bestraft: Die bösartige Specksteinlampe hängt genau auf Kopfhöhe, am Küchenschrank eckt man an mit der Hüfte, und am Tischbein bricht man sich die kleine Zehe. Die Beleuchtung ist zudem so placiert, dass die Fallen nicht zu sehen sind …»

Hier haben wir ihn wieder, den unverkennbaren selbstironisch-sarkastischen, ingrimmigen Liechti-Ton, der seit «Ausflug ins Gebirg» von 1985 zu seinem Markenzeichen geworden ist. Er gilt durchaus auch dem titelgebenden Garten: «Ich hätte nicht übel Lust, die hübschen Gartenwege hier mit kleinen Namensschildern zu versehen: der Duckdich-Weg, das Darfnicht-Strässchen, die Fersenbeisser-Gasse, der Prügel-Pfad, das Schämdich-Plätzchen … […] Mein Lieblingsmotiv in dieser Anlage ist allerdings die dunkelgrüne Konifere oberhalb von Vaters Garten, ein zu gross geratener Bonsai von seltsamer Künstlichkeit, skulptural und fremd. […] Ich würde mich ziemlich einsam fühlen ohne die Gegenwart dieser Pflanze hier. Ab und zu gibt sie mir Zeichen, und ich verstehe, ohne dessen Bedeutung zu kennen.» In der Tat scheint dieser Baum, der einmal grün vor gelbrotem Herbstwald steht wie ein von Magritte gemalter Einbruch des Unerklärlichen, dann als gefrorene grüne Flamme ins Weiss der Winterlandschaft lodert, jenseits alles Gepützelten unversehens eine unheimliche andere Wirklichkeit zu eröffnen.

Peter Liechti hat «Vaters Garten» unter ein implizites Motto gestellt, das wir weniger dem Film als den Notizen zu dessen Genese, wie sie in «Lauftext» abgedruckt sind, entnehmen. Es ist die Erfahrung des misslungenen Abschieds nach einer unerwarteten Begegnung mit seinem Vater, die ihn umgetrieben hat – und die er in einem unerhörten Kraftakt zum gelungenen Abschied zu formen vermochte. «Ich merke, dass mir der Abschied nicht gelungen ist. Nichts ist bindender als ein misslungener Abschied. Und der Versuch, ein Leben lang diesen Abschied nachzuholen», notierte sich der Filmemacher in seinem «Logbuch 1995–1997». Fast fünfzehn Jahre später, inzwischen ist er selber schon sechzig, war die Stunde gekommen, ihrer beider Geschichte – und dazu diejenige seiner Mutter – aufzuarbeiten.

Nun stehen wir, die Zurückgebliebenen, da und sehen, dass ihm der (ungewollte) Abschied gelungen ist. Wir aber müssen sein Werk plötzlich als abgeschlossen begreifen. Zu «Dedications» hatte er sich aus dem Prosastück «Eine Art Erzählung» von Robert Walser die folgenden Sätze notiert: «Meine Prosastücke bilden meiner Meinung nach nichts anderes als Teile einer langen, handlungslosen, realistischen Geschichte. […] Der Roman, woran ich weiter und weiter schreibe, bleibt immer derselbe und dürfte als ein mannigfaltig zerschnittenes und zertrenntes Ich-Buch bezeichnet werden [können].» Mit Walser, dem grossen Geher und Autor des «Spaziergangs», verband ihn auch eben diese Lust am Spazieren und am Gehen – die nicht mit dem in der Schweiz populären Wandern verwechselt werden sollte. So war sein Werk buchstäblich «work in progress», entstanden aus der Arbeit des Voranschreitens, draussen in der Landschaft, Schritt um Schritt, wie es meisterlich «Hans im Glück» exemplifiziert hat, der mir liebste unter seinen Filmen.

Ich habe eingangs gesagt, dass Peter noch nicht bereit gewesen sei zu sterben. Eindrücklich habe ich das bei einem meiner letzten Besuche erlebt. Nachdem es ihm in den Tagen zuvor offenbar nicht gut gegangen und er wohl auch nur sehr bedingt ansprechbar gewesen war, war er nun plötzlich hellwach, antwortete nicht nur völlig präsent auf meine Fragen, sondern wollte Nachrichten von draussen, erkundigte sich auch angelegentlich nach den Filmen, die ich zuletzt gesehen hatte, wollte wissen, woran ich gerade arbeitete. Schliesslich wollte er noch etwas schlafen. Als ich nach einer Stunde nochmals bei ihm hineinschaute, lag er – auch dank den Medikamenten – ganz ruhig da, vielleicht, dass seine Lippen im Schlaf manchmal etwas zu formulieren schienen. Drei Tage später war er tot. Gern bilde ich mir ein, dass Peter auf dieser seiner letzten Reise die Bilder gefunden und gesehen hat, nach denen er noch gesucht hatte.

Peter Liechtis Werk mag nicht abgeschlossen sein. Vollendet ist es auf jeden Fall.

 

Index Textes


 Livres, Editions 
»Peter Liechti – DEDICATIONS« (Scheidegger&Spiess Zürich, 2016)
Peter Liechti: »Klartext. Fragen an meine Eltern« (Vexer Verlag St.Gallen, 2013) *)
Peter Liechti: »Lauftext - ab 1985« (Vexer Verlag St.Gallen, 2010) *)
Peter Liechti: Waldschrat. Sechsteilige Fotoserie (Vexer Verlag St.Gallen, 2011)

 Par Peter Liechti 
Carte Blanche Peter Liechti (Jahresbericht ARF/FDS 2011; deutsch)
Carte Blanche Peter Liechti (Rapport annuel ARF/FDS 2011; français)
«Viel zu wenige Künstler stürzen ab» (Peter Liechti im Gespräch mit Marcel Elsener)
»Kinodokumentarfilm – Fernsehdokumentarfilm« – Text zur Rencontre ARF/FDS 2006 von Peter Liechti
«Le documentaire de cinéma – le documentarie de télévision» – Texte pour la Rencontre ARF/FDS 2006 de Peter Liechti
Es boomt um den Schweizer Film, von Peter Liechti, Neue Zürcher Zeitung, 30.Juni 2000
Dunkle Stirnen, helle Geister, von Peter Liechti, Tages Anzeiger, September 1997

 A propos de Peter Liechti 
Von Menschen und Hasen (Alexander Weil in www.literaturkritik.de)
Im weitesten Winkel (Bert Rebhandl in FRIEZE)
The Wanderer (Bert Rebhandl in FRIEZE)
Die Kunst des Abschieds (Christoph Egger, Ansprache Gedenkfeier St.Gallen
Konfrontationen mit dem innern Dämon (Christoph Egger, Nachruf in der NZZ)
Der Einzel-, Doppel- und Dreifachgänger (Christoph Egger, Filmbulletin 1/2014)
Im Luftschiff mit Peter Liechti (Tania Stöcklin, Katalog Solothurner Filmtage 2014)
En dirigeable avec Peter Liechti (Tania Stöcklin, Catalogue Journées de Soleure 2014)
Open-Ended Experiments (Matthias Heeder, Katalog DOK Leipzig 2013)
Offene Versuchsanordnung (Matthias Heeder, Katalog DOK Leipzig 2013)
Peter Liechti, Sismographe (Bernard Tappolet, Le Courrier, 3 septembre 2011)
Laudatio auf Peter Liechti (Fredi M. Murer, Kunstpreis der Stadt Zürich)
Landschaften, befragt, mit Einzel-Gänger (Christoph Egger, Laudatio Kulturpreis St.Gallen)
Kino zum Blättern? Jein! (Florian Keller)
Das grosse alte Nichts heraushören – und es geniessen (Adrian Riklin)
«Sans la musique, la vieserait une erreur» – Collages et ruptures pour Peter Liechti (Nicole Brenez)
Tönende Rillen (Josef Lederle)
The Visual Music of Swiss Director Peter Liechti (Peter Margasak)
A Cinematic Poetics of Resistance (Piero Pala)
Aus dem Moment heraus abheben – Peter Liechtis Filme (Bettina Spoerri, NZZ, 19.8.2008)
Sights and Sounds – Peter Liechti's Filmic Journeys, by Constantin Wulff
Letter from Jsaac Mathes
Passage durch die Kinoreisen des Peter Liechti (Constantin Wulff)
Gespräch mit Peter Liechti (Constantin Wulff)
Tracking Peter Liechti's cinematic journeys (Constantin Wulff)
Interview with Peter Liechti (Constantin Wulff)
Interview zu »Namibia Crossings«, in: Basler Zeitung, 23.9.2004
Dokumentarische Haltung. Zu »Hans im Glück«, in: NZZ, 2004
Jäger, Forscher oder Bauer, Interview von Irene Genhart mit Peter Liechti, Stehplatz, April 1996
Excursions dans le paysage, de Michel Favre, Drôle de vie, numéro 8, Dezember 1990
Duckmäuse im Ödland, von Marianne Fehr, WoZ Nr.21, 23.Mai 1990

  Diverses 
Gedenkanlass im Filmpodium Zürich -- in Vorbereitung

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*)
 Inhalt Peter Liechti: «Lauftext – ab 1985» 

Sprechtext zum Film AUSFLUG INS GEBIRG, 1985
Zwei Versuche aus dem Jahr 1987
«Unrast», Arbeitstexte zu MARTHAS GARTEN, 1988 ‑ 1989
Reisenotizen aus den USA, 1990
Logbuch 1995 ‑ 1997
Logbuch 1998 ‑ 1999
Reisenotizen aus dem Südsudan, 1999
Recherchen Namibia, Rohtexte zu NAMIBIA CROSSINGS, 1999
Erstes ungekürztes Marschtagebuch zu HANS IM GLÜCK, 1999
Logbuch 2000 ‑ 2001
Zweites ungekürztes Marschtagebuch zu HANS IM GLÜCK, 2000
Drittes ungekürztes Marschtagebuch zu HANS IM GLÜCK, 2001
Logbuch 2002
Logbuch 2003
Logbuch 2004
Logbuch 2005
Logbuch 2006
Logbuch 2007
Logbuch 2008
Logbuch 2009
Logbuch 2010 (bis Mai)


Details zum Buch

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